Sektor IV

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VERSCHOBENE WAHRNEHMUNG – VERSCHOBENE KURVEN

04. Februar 2024, 20:00

Behördliche Kollektivstrafen sind im Schweizer Fussball gerade allgegenwärtig. In der heutigen Runde trifft es die Fans des FC St. Gallen, denen der Zutritt zum Gästesektor in Luzern durch die KKJPD verboten wird. Alleine in den vergangenen vier Runden davor traf es bereits drei Spiele – Tausende Fans sollten aus den Stadien ausgesperrt werden. Die Kadenz der Kollektivstrafen nimmt zu und die Behörden handeln zunehmend willkürlich. Alle grossen Schweizer Fanszenen verlassen darum heute ihre Kurven und Gästesektoren und verfolgen die Spiele von anderorts im Stadion.

Die Fans in der Schweiz sind wild, laut und vor allem zahlreich. Die Super League verzeichnet einen grossen Zuwachs an Zuschauer:innen, Saison für Saison werden neue Rekordzahlen registriert. Die Fans sind ein wichtiges Element des Erfolgsmodells des Schweizer Fussballs. Viele Vereine sind auf die Stadioneinnahmen angewiesen, bei noch mehr Vereinen sind die Fankurven ein wesentlicher Teil des Stadionbesuchs – mag der Fussballsport in der Schweiz nicht immer brilliant sein, seine Fans sind es oft genug. Sie sind organisiert und aktiv, wie kürzlich als sie dazu beitrugen, die Einführung der Playoffs im Schweizer Spitzenfussball zu verhindern.

Nicht alle Facetten der Fankultur werden von allen gleichermassen positiv beurteilt. Während Fahnenmeere, Choreografien, Gesänge und Feuerwerk im Stadion auf viel Wohlwollen treffen, kann dasselbe von der Gewalt, die die Fankultur begleitet, kaum behauptet werden. Zugleich ist die Debatte um die Gewalt im Fussball alt und wiederkehrend, was zeigt, dass es sich um kein neues Phänomen handelt. Der 13. Mai 2006, als der FC Zürich in Basel in letzter Minute den Meistertitel gewann und es daraufhin auf dem Spielfeld zu Auseinandersetzungen zwischen Fans und Spielern kam, ist dabei ein wesentlicher Eck- und Wendepunkt für den hiesigen Umgang mit der Fankultur. 

Als Folge dieser Ereignisse folgte eine Reaktion der Vereine, Liga und Behörden, die seither im Wesentlichen auf zwei Elemente setzte – Repression seitens der Sicherheitsbehörden, Dialog seitens der Vereine und Liga. Zugleich intensivierte sich die Reflektion unter den organisierten Fanszenen, eine Selbstregulierung setzte ein, die mit dazu beitrug, dass sich die Situation im und um das Stadion weitestgehend beruhigte. Ausnahmen dazu gab und gibt es. Aber sie sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Während jedoch die Selbstregulierung der Kurven im Stillen wirkt, sich in ausbleibenden Ereignissen niederschlägt und folglich keine dramatischen Bilder produziert, werden umgekehrt die Bilder der Ausnahmen dramatisiert und aufgebauscht – Schuld sind stets die Fans, Gegendarstellungen wie etwa durch die Fanarbeit (wie beim Spiel GC – BSC Young Boys) werden medial kaum je gleichermassen ernsthaft aufgenommen und wiedergegeben wie die Behauptungen der Sicherheitsbehörden. 

Die Kantonale Konferenz der Justiz- und Polizeidirektor:innen (kurz: KKJPD) hat nun seit Beginn dieser Saison die Repressionsschraube gegen Fussballfans weiter massiv angezogen. Es ist keine neue Strategie, sondern eine markante Intensivierung der stets selben ineffektiven repressiven Ansätze. Die Vereine und Liga werden zu Statist:innen degradiert, während Hardliner:innen aus den einen Kantonen den Vereinen in den anderen Kantonen die Schliessung ihrer Stadionsektoren verfügen. Es ist eine Eskalation ohne jede Not. Selbst die Forscher:innen, die sich mit Gewalt im Sport beschäftigen und die Massnahmen der KKJPD evaluieren, bescheinigen dem Schweizer Fussball ein ausserordentlich tiefes Niveau der gewalttätigen Ereignisse, wenn man sie im Verhältnis zu vergangenen Saisons setzt. Und dies wohlgemerkt in einer Zeit, in der stets mehr Fans in die Stadien strömen. 

Die Eskalation der KKJPD führt in die Sackgasse. Die gemeinsamen Aktionen der Fans an den vergangenen Spieltagen zeigen auf, wie leicht die Massnahmen der KKJPD umgangen werden und ins Leere laufen. Ihre Massnahmen sorgen einzig für mehr Unruhe und Kosten. Stets mehr Repression wird es nicht richten, der Griff zu den immer selben Rezepten aus dem Repressionsarsenal, die in den vergangenen Jahren immer wieder ihre Unwirksamkeit bewiesen haben, wird die Lage nicht bessern. Wer sich ernsthaft mit der Fankultur auseinandersetzen will, muss weg von Nulltoleranz, Befehl und kollektiver Erpressung via kollektiver Strafe und zurück zu Augenmass, Pragmatismus und Dialog – wie es im Übrigen seit vielen Jahren erfolgreich zwischen Fans und Vereinen praktiziert wird. 

Die Kollektivstrafen betreffen alle Fans im Stadion. Macht die KKJPD so weiter wie nach dem Spiel zwischen dem FCZ und dem FC Basel vor drei Wochen, als nach Ereignissen weit ausserhalb des Stadions und weit nach Spielende kurzerhand die Zürcher Südkurve gesperrt wurde, kann es gut und gerne aus nichtigen Gründen alle Sektoren aller Stadien aller Vereine treffen. Die Kollektivstrafe zielt auf alle, um einzelne zu treffen, was umgekehrt heisst, dass sich das Verhalten einiger weniger für alle einschneidend auswirken kann. Es ist eine behördliche Erpressung und eine schlechte noch dazu – als könnten irgendwelche Fankurven und erst recht irgendwelche Fans eine Garantie für ein absolutes Ausbleiben aller Ereignisse ausstellen. Diese Vision einer Nullrisikogesellschaft hat nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun, öffnet aber Tür und Tor der behördlichen Willkür. Weil das unrealistische Versprechen nicht gehalten werden kann, braucht es stets mehr behördliche Massnahmen, die stets nie genügend erreichen, weil eben doch immer irgendwo irgendwas geschieht, weshalb es dann eben wiederum stets mehr behörden Massnahmen braucht. Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung der Sicherheitsbehörden. 

Bei der KKJPD herrscht eine verschobene Wahrnehmung bezüglich der gegenwärtigen Lage im Schweizer Fussball. Erst recht ist ihre Wahrnehmung bezüglich der Wirksamkeit ihrer Massnahmen verschoben. Auch wir Fanszenen können uns verschieben – und verfolgen heute, wenn in Luzern der Gästesektor geschlossen bleiben soll, schweizweit die Spiele dieser Runde von ausserhalb unserer üblichen Kurven und Gästesektoren. Wenn man die Fankurven aus den Stadien treiben will, tragen wir die Kurven in weitere Teile des Stadions. Wir wollen mit dieser Aktion anregen, was die Kollektivstrafen der KKJPD für den Schweizer Fussball und seine Fans bedeuten. Wir wollen uns als Fans austauschen, mit allen im Stadion, von den Logen zu den Tribünen, von den Alteingesessenen zu den Familien, von jenen, die ihre Hände verwerfen, wenn die Kurve wieder zündet, bis zu jenen, die früher selber in den Kurven standen. Und wir wollen unmissverständlich klarmachen – uns wird man aus den Stadien nicht los. 

AUF KOLLEKTIVSTRAFEN FOLGEN KOLLEKTIVE ANTWORTEN!

Szene Aarau, Canton Baden, Muttenzerkurve Basel, Ostkurve Bern, KOP SUD LAUSANNE, Curva Nord Lugano, USL (Luzern), Tribune Neuch‘, Gradin Nord(Sion), Espenblock St.Gallen, Block Süd (Thun), Bierkurve Winterthur, Zürcher Südkurve, Sektor IV GC Züri